Wussten Sie, dass direkt an der Schweizer Grenze ein unerbittlicher Krieg zwischen Italien und Österreich-Ungarn herrschte? 100 Jahre später kann man auf den Spuren des Ersten Weltkrieges wandern. Höhepunkt ist das italienische Alpini-Dorf, das dem Machu Picchu verblüffend ähnlich sieht.
Es ist ein Husarenstück der österreichischen Truppen. Mit nur 29 Mann erobern Sie den 3094 Meter hohen Monte Scorluzzo und vertreiben die Italiener zurück ins Valle del Braulio. Wir befinden uns im Ersten Weltkrieg und schreiben den 4. Juni 1915. Italien hat Österreich-Ungarn vor Kurzem den Krieg erklärt und den Scorluzzo besetzt. Die Kriegsfront verläuft quer durch die Südalpen, und es herrscht ein wahnwitziger Stellungskrieg mitten im Hochgebirge.
Auch die Schweiz liegt in Reichweite der Geschütze. Die eidgenössischen Soldaten haben sich am nahen Umbrailpass in Stellung gebracht, um die Grenze zu sichern und die Gefechte am gegenüberliegenden Monte Scorluzzo zu beobachten. «Die überraschende Eroberung des strategisch wichtigen Berges durch die Österreicher war auch für die Schweiz ein Glücksfall», sagt Henri Duvoisin.
Der Bergwanderführer kennt die Gegend und die Spuren dieses grausamen Gebirgskriegs wie kaum ein anderer. «Wenn die Italiener den Scorluzzo beherrscht hätten, wären sie früher oder später wohl auch in die Schweiz eingedrungen», ist der Hobbyhistoriker überzeugt. Denn Italien wollte den Versorgungsweg der österreichischen Truppen über den Reschenpass abkappen.
Was lag da näher, als über den Umbrail und das Val Müstair vorzustossen? Doch die Österreicher harten bis zum Kriegsende im November 1918 auf dem Monte Scorluzzo aus und verteidigten die Angriffe der Italiener mit Erfolg. Genutzt hat es letztlich wenig, das Königreich Österreich-Ungarn verlor den Krieg und löste sich in seine Einzelteile auf. Als Folge wurde das Südtirol italienisches Staatsgebiet.
Heute, mehr als 100 Jahre später, kann man den Kampf um den Scorluzzo auf einer Bergwanderung nachempfinden. Wir treffen Henri Duvoisin um Viertel nach sieben bei der Post in Sta. Maria. Das Postauto bringt uns via Umbrail in 45 Minuten auf das Stilfserjoch, 2757 m ü. M., wo uns ein kühles Lüftchen begrüsst. Menschen mit Skiern auf den Schultern laufen über den Parkplatz, um mit der Gondelbahn ins Sommerskigebiet auf dem Stelviogletscher zu fahren. Doch unser Ziel ist der gegenüberliegende Monte Scorluzzo.
Wir lassen die schroffe Landschaft und die nahen Gletscher auf uns wirken und folgen den auffälligen Wegmarkierungen in rot-grün-weiss. Die drei Farben stehen für die drei Sprachkulturen und Regionen, die hier aufeinandertreffen: das Val Müstair, Vinschgau und Veltlin. Im Rahmen eines Interreg-Projektes wurden vier militärhistorische Wanderwege gesichert, markiert und mit über 40 Schautafeln ausgestattet, welche die damalige Kriegslage im Gebiet Umbrail und Stilfserjoch erläutern.
«Das Ziel ist, die hier auffindbaren Spuren des Ersten Weltkrieges zu bewahren, zu dokumentieren und zugänglich zu machen», sagt Henri. Seit zwölf Jahren leitet er Touren zu den verschiedenen Kriegsschauplätzen und hat sich ein breites historisches Wissen angeeignet. «Mich interessiert vor allem das Leben der Soldaten. Ich frage mich: Wie hielten sie das bloss aus? Wie konnten sie trotz widrigsten Umständen so bedingungslos gehorchen und fürs Vaterland kämpfen?»
Auf dem Monte Scorluzzo wurde im Sommer genauso wie im Winter gekämpft. Zweieinhalb Jahre lang hielten sich die österreichischen Soldaten auf dem Berg auf. Sie mussten Stellung halten, um jeden Preis. Als wir den Gipfel erreichen zeigt uns Henri eine Höhle und Kochnische. «Hier wurde geschlafen, gekocht und Wache gehalten, doch die Männer waren keine wirklichen Soldaten, diese waren alle an der Ostfront beschäftigt, sondern einfache Leute mit miserabler Ausrüstung, zum Teil hatten sie bloss Schuhe aus Stroh.» Mit unseren Goretex-Jacken und Vibram-Sohlen können wir uns nicht vorstellen, wie sowas möglich gewesen ist.
«Von den Österreichern findet man nur wenige Überreste, da sie keine grösseren Bauwerke errichteten. Sie harrten einfach im Freien aus, tagtäglich und auch bei minus 30 Grad», erklärt Henri. Ganz anders die Italiener. Die Truppen bestanden aus hervorragend ausgebildeten Gebirgsjägern – den Alpini – Maurern und Steinmetzen. Und sie betrieben einen enormen Aufwand, um den Scorluzzo zurückzuerobern. Auf dem Südwestkamm, dem Filone del Mot (2899 m), bauten sie ein ganzes Dorf auf, das Platz für eine komplette Kompanie bieten sollte. Von dort planten die Alpini eine Grossoffensive, um den strategisch wichtigen Berg zu stürmen.
Dieses Alpini-Dorf ist sehr gut erhalten und heute unter dem Namen «Italiensicher Machu Picchu» bekannt, da es dem Inka-Dorf in Peru verblüffend ähnlich sieht. Und es ist unser nächstes Ziel. Wir steigen über den steilen Südgrad hinab, der Weg ist ausgesetzt und erfordert Schwindelfreiheit und Trittsicherheit. Bald erreichen wir die erste Befestigungsanlage der Italiener, ein solide gemauertes Bauwerk. Weiter als hier kamen die Alpini nicht, sie waren ein zu leichtes Ziel für die Österreicher, die einfach hinunterschiessen konnten.
Nun verläuft der Weg flach und wir können die Aussicht geniessen. Linkerhand schwarze und mächtige Felswände, vereinzelt mit einem Gletscher gekrönt. Rechterhand eine Hochebene in sattem Grün, dazwischen glitzernde Bäche und kleine Seen. Weiter hinten thront der langgezogene Piz Umbrail, wo die Schweizer Soldaten ihre Stellungen hatten, um das Kriegsgeschehen zu beobachten.
Wir laufen durch Schützengräben und immer wieder begegnen uns Überreste der italienischen Kriegsbauten. Schliesslich erreichen wir das Alpini-Dorf, den italienischen Machu Picchu. Geometrisch exakt angelegte Häuserreihen besetzen den schmalen Bergkamm, historische Architektur mitten in den Bergen. «Es scheint, dass die Italiener vom Kriegsende überrascht wurden. Denn sie bereiteten alles so vor, um über eine längere Zeit hier bleiben zu können.»
Während dem Picknick weist Henri auf einen vergletscherten Gipfel, den Monte Cristallo oder die Hohe Schneide (3434 m). Auch dieser Berg war heftig umkämpft. Die Österreicher und Italiener gruben kilometerlange Stollen durch das Gletschereis, um Richtung Gipfel vorzudringen und den Gegner überraschen zu können.
Um Stollen im Eis – zum Teil mehrere Kilometer lang – zu graben, ging man lediglich mit Pickel, Bohrmeissel und Schaufeln vor, da Sprengstoff im Eis völlig ungeeignet ist. Unvorstellbar! Doch Fotografien zeugen davon. Zahlreiche historische Aufnahmen belegen die Vorkommnisse dieses einmaligen Gebirgskrieges und sind im «Museum 14/18» in Sta. Maria im Val Müstair zu sehen. Hier können sich Interessierte für ihre Spurensuche im ehemaligen Kriegsgebiet einstimmen oder die erlebte Wanderung beim Betrachten der Fotografien nachklingen lassen. Besuchen Sie die neue Webseite des Vereins Stelvio-Umbrail 14/18 um mehr Informationen rund um das Thema zu erhalten.
Vom Alpini-Dorf Machu Pichu führt der Wanderweg in die Hochebene «Piano di Scorluzzo» hinunter. Wir erfreuen uns am üppigen Grün und dem Wollgras, das die Bäche wie Schneeflocken umsäumt. Nun ist es nicht mehr weit bis zur Passtrasse des Umbrails. Bevor wir diese erreichen, zeigt uns Henri einen Stollen und Materialbunker der Italiener. Auffällig ist, wie Henri bemerkt, dass die Kanonenluken exakt Richtung Schweiz ausgerichtet sind. Zum Glück haben die Österreicher auf dem Monte Scorluzzo durchgehalten.
Start: Stilfserjoch (2757 m) / Postautohaltestelle
Ziel: Umbrailpass (2501 m) / Postautohaltestelle
Länge: 9 km
Dauer: 4-5 Stunden
Aufstieg: 443 Höhenmeter
Highlights: Monte Scorluzzo (3094m) / Alpini-Dorf “Machu Picchu”
Henri Duvoisin leitet seit 2007 Wanderungen zu den verschiedenen Kriegsschauplätzen. Die anspruchsvolle Tour über den Scorluzzo führt er jedoch nicht mehr durch. Seine Nachfolge übernimmt Chantal Lörtscher.
Start: Umbrailpass (2501 m) / Postautohaltestelle
Ziel: Stilfserjoch (2757 m) / Postautohaltestelle
Länge: 8 km
Dauer: 3 Stunden
Aufstieg: 482 Höhenmeter
Start: Umbrailpass (2501 m) / Postautohaltestelle
Ziel: Umbrailpass (2501 m) / Postautohaltestelle
Länge: 10 km
Dauer: 4.5-5 Stunden
Aufstieg: 600 Höhenmeter